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Auszug aus dem Katalog
Birgit Schuh / Andreas Ullrich: public domain.
International Neighborhood Verlag, Leipzig, 2018

Text: Bernhart Schwenk, Kurator für Gegenwartskunst, Pinakothek der Moderne, München

Auf der grauen Betonmauer fallen sie sofort ins Auge, die großen Tücher in leuchtendem Blau und Grün. Wie zufällig abgelegt erscheinen sie dort – und auf irritierende Weise deplatziert. Denn wer den Ort kennt und weiß, dass die lange Mauer zum Operationszentrum eines Klinikums führt, dem fallen sofort entsprechende Assoziationen ein. Blau und grün nämlich sind die Farben der OP-Tücher und -Kittel, die in Krankenhäusern weltweit zum Einsatz kommen. Hat hier ein OP-Team kurzerhand Feierabend gemacht? Oder hat die Klinikwäscherei vergessen, die Tücher mitzunehmen? Oder decken die Tücher am Ende etwas ab, was sich darunter befindet – etwas, das geschützt werden muss und das wir nicht sehen sollen?

Die geheimnisvollen „Tücher“ sind natürlich keine echten. Vielmehr bestehen sie aus glasfaserverstärktem Kunststoff, der jedoch die Oberflächenstruktur eines textilen Stoffes fast naturalistisch nachbildet, Bügelfalten inklusive. Die „Tücher“ sind eine künstlerische Arbeit der Bildhauerin Birgit Schuh, knapp betitelt als „Überwurf“.

Das Kunstwerk greift in die räumliche Umgebung des Klinikums ein und deutet diese um, indem sie das bebaute Gelände nicht als unveränderliche Setzung versteht, sondern als offene, temporäre Situation, die vom Menschen gestaltet, immer wieder verändert und neu nutzbar gemacht wird – eine Art permanente Baustelle. In diesem Verständnis lässt sich ein urbanes Gefüge auch als lebendiger Organismus begreifen, in dem zum Beispiel eine graue Betonmauer als ein „Patient“ angesehen werden kann, der einem operativen Eingriff – möglicherweise einem ästhetischen? – entgegensieht.

Eines der zentralen Motive im Schaffen von Birgit Schuh kommt auch bei „Überwurf“ zum Tragen, nämlich die Beschäftigung der Künstlerin mit Landschaft und Architektur – ein Umgang mit Grundformen, mit Silhouetten, mit dem Veränderungspotenzial von Formen und Materialien. Dieser Umgang wirkt stets leicht, fast spielerisch. Und schwingt beim Titel „Überwurf“ nicht auch der Begriff „Übermut“ mit?

Das Werk von Birgit Schuh ist jedoch mehr als eine humorvolle Geste, mehr als eine Darstellung von etwas, mehr als nur ein illusionistischer Kunstgriff. Denn „Überwurf“ macht gleichzeitig etwas mit uns, das wir nicht sofort erklären können. Das Werk bleibt im selben Maße, wie wir es bezeichnen können, auch abstrakt. Und es beschränkt sich nicht darauf, bloßes Objekt zu sein. Vielmehr nimmt es bewusste Bezüge zur Umgebung auf, tritt in einen freien Dialog zu den rechteckigen Formeinheiten, aus denen die Betonmauer besteht, aber auch zu dem netzartigen textilen Gewebe, das den Baukörper des OP-Zentrums umspannt.

„Überwurf“ kennzeichnet letztlich nichts anderes als das, was Skulptur seit Jahrhunderten ausmacht. In der Skulptur geht es um eine plastische Bearbeitung von Materialien, die unerwartete Formen, andere Volumina entstehen lassen und so auf den sie umgebenden Raum einwirken. In engerem Sinne reiht sich das Werk von Birgit Schuh in eine Tradition abstrakter Skulptur ein, die eine eigenständige, aber kontextbezogene Realität definiert, sich ästhetisch in unsere gewohnte Sicht auf die Dinge einschreibt und sie im besten Falle auch überschreibt. Diese bildhauerische Tradition beginnt nach dem Zweiten Weltkrieg mit den minimalistischen Ansätzen der New Sculpture, etwa von Robert Morris oder Lynda Benglis. Sie lässt sich aber auch in Verbindung bringen mit den plastischen Erkundungen eines Franz Erhard Walther, der das Erlebnis des gefalteten Textilraums in die Kunst einführte. Die Werke all dieser Künstlerinnen und Künstler spiegeln unsere Realität und stellen sie gleichzeitig in Frage. Mit ihrer bloßen Existenz erweitert diese Kunst unsere Wahrnehmung, lässt unser normiertes, zumeist auf Funktionen ausgerichtetes Denken aus dem Takt geraten. Entsprechend lädt uns auch „Überwurf“ zum Austausch ein – egal ob zu einem neugierigen, erregten, fantasievollen oder inspirierenden. Denn jeder Austausch, jedes Nachdenken, jedes Anders-Denken hilft uns dabei, uns nicht im Trott des Alltags zu verlieren oder vom scheinbar Unabänderlichen beherrschen zu lassen.

Auszug aus dem Katalog
Birgit Schuh: Landschaftslabor. landscape lab.
Verlag für zeitgenössische Kunst und Theorie, Berlin, 2014

Text: Susanne Altmann

„Zudem muss ein solcher Gärtner auch den Zirkel wol verstehen / den Garten in schöne Austheilung künstlich zu bringen / auszusetzen / und die ganze Form auf Papier oder Pergament wol aufgezeichnet / gleichmässig nach der Zahl und der Figur abzumessen / … / damit er nach diesem Dissegno Rechenschaft und gewisse Nachricht zu jederzeit geben könne …“1

So schreibt Wolf Helmhardt von Hohberg, ein deutscher Adeliger und Gutsherr, in einem didaktischen Traktat um 1688. Er verfasste damit eine Anleitung dazu, wie ein Landgut vorbildlich zu führen und alle verbundenen Aufgaben zu lösen seien. Die Schrift fällt in eine Zeit, da der menschliche Eingriff in die Natur allmählich auch theoretisch behandelt wurde, und zwar nicht nur in seiner Form als landwirtschaftliche Kultivierung, sondern auch in der Anlage von Lust- und Ziergärten. Hohberg schmückte seine Ausführungen reich mit Zeichnungen von Beeten, Labyrinthen und anderweitigen Gestaltungselementen aus, um dem respektiven Gärtner universelle Anleitungen zu bieten. Interessanterweise führt er für derlei Zeichnungen den Begriff des „Dissegno“ ein, der ja als disegno mindestens seit Giorgio Vasari das eigenständige Gestaltungs- und Entwurfspotenzial der Bildkünste umreißt und als formgewordene Idee schlechthin galt. In einer Epoche also, in der sich Gartenkunst aus dem angewandten Bereich hin zur eigenständigen Kunstform emanzipierte, wird dem frühen Landschaftsgestalter hier terminologisch, bewusst oder unbewusst, eine künstlerische Ambition abverlangt. In diesem Sinne beginnt die menschliche Überformung von Landschaft nicht nur auf dem Zeichenblatt, sondern gibt sich zugleich als ästhetisch reflektierte Geste zu erkennen.

Auf genau diesen Zusammenhang zwischen dem aktivem Eingriff in die Landschaft, dessen künstlerisch-planerischer Vorbereitung und folgender Dokumentation hebt Birgit Schuh in vielen ihrer Arbeiten ab. Bereits 2012 entstand mit „Landscape Lab“ eine Serie von postkartengroßen Zeichnungen nach Luftbildaufnahmen von Landschaften, u.a. eines Autobahnkreuzes, eines Parks und eines Straßentunnels. Nun weisen die verwendeten vogelperspektivischen Vorlagen selbst bereits einen starken Abstraktionsgrad auf. Die Künstlerin dehnt diesen noch weiter in ein künstlerisch aufgefasstes, fast eigenständiges Ornament hinein aus. In der fotografisch bedingten, leichten Schräglage verschwimmen hier die Grenzen zwischen realer Bestandsaufnahme und möglichem Entwurf, stilistisch unterstützt von wässrigem Farbauftrag. Birgit Schuh registriert und interpretiert derlei Zeugnisse menschlichen Gestaltungs- und Aneignungsdrangs. Das ist das Programm ihres selbstproklamierten „Landschaftslabors“. Sie widmet sich dabei sowohl absichtsvoll ästhetisierten Arealen wie eben Gärten oder Parks als auch Naturräumen, die aus rein utilitaristischen Interessen Veränderungen in verschiedenstem Ausmaß erfuhren.

In ihren 2012 entstandenen Arbeiten „Karte PG“ und „Karte GG“ spielt sie diese beiden Ansätze, kurz: Lustgewinn und Nutzfunktion, gegeneinander aus. Damit eröffnet sie sich ein weites Aktionsfeld der Reflexion über Natur, über Landschaft und über deren verschiedene Aneignungsformen. Die beiden großformatigen, fast zweieinhalb Meter breiten Zeichnungen gehen zunächst vom disegno als eher rationalem Medium aus: „Karte PG“ beruht auf historischem Kartenmaterial des Plauenschen Grundes und „Karte GG“ auf einem ebenfalls zeitgenössischen Plan der barocken Anlage des Großen Gartens. Beide Areale liegen in Dresden und bilden markante Zeichen des Stadtbilds. Die Künstlerin betont jedoch, dass es ihr weniger um lokale Besonderheiten geht, sondern vielmehr um die archetypischen Qualitäten solcher Karten.
Auf jeden Fall begegnet uns mit dem Plauenschen Grund eine Landschaft, die sich zu ihrem heutigen Erscheinungsbild ganz allmählich entwickelt hat, auf der Basis eines intakten Naturraums. Noch im 19. Jahrhundert pilgerten romantische Maler wie Caspar David Friedrich und sein Kreis dorthin, um relativ stadtnah eine Idylle zu malen und zu zeichnen. Und im 18. Jahrhundert diente der malerische Grund als Kulisse für barocke, höfische Feste, ohne deshalb einschneidende Veränderungen zu erfahren. Doch bereits in den Zeugnissen der Romantiker finden sich Spuren frühindustrieller Eingriffe. Der Weg durch das einst lauschige Tal wurde bald als Wirtschaftsweg erweitert, der Flusslauf der Weißeritz für das Mühlenwesen domestiziert und später von einer Eisenbahnlinie in Richtung Westen flankiert. Auch heftige Bebauung, Steinbrüche und neuerdings eine monumentale Autobahnbrücke veränderten das Antlitz der Natur. Trotzdem hat sich der Plauensche Grund heute noch Reste seiner Ursprünglichkeit bewahrt. Birgit Schuhs Zeichnung betont dies und setzt sich in gewisser Weise über die infrastrukturellen Veränderungen hinweg; auch weil sie sich auf grafische Besonderheiten im Sinne von Kompositionselementen konzentriert. Helle Niederungen und dunkle Höhenzüge entfalten ein Eigenleben jenseits funktionaler Eingriffe und die feuchte Tuschtechnik, die wilden Schraffuren fügen dem Ganzen eine gestische, scheinbar ungeregelt wuchernde Atmosphäre bei.

Als künstlerische Vision holt Birgit Schuh die Gestaltungsmacht der Natur wieder in unser Bewusstsein, so als würde sich die Wildnis das Gelände zurückerobern. Wir tauchen vor dem Blatt gleichsam in die Anatomie einer Landschaft ein und werden zu deren Erkundung eingeladen. Diese Einladung setzt sich symbolisch in einer kalkulierten Faltung der Zeichnung entlang den Vorgaben einer herkömmlichen Wanderkarte fort. Die dreidimensionalen Spuren dieser Faltung nun verursachen eine weitere Verlebendigung der gezeichneten Landschaft: Geknicktes Papier erweckt den Eindruck einer Reliefkarte. Mit der „Karte GG“ verfährt Birgit Schuh ganz ähnlich. Nur orientiert sie sich hier nicht am Modus der Wanderkarte, sondern an der normierten Falzung von architektonischen Plänen. Nicht ohne Kalkül, denn bei „Karte GG“ handelt es sich ja tatsächlich um eine Anlage, die auf dem Reißbrett entstand. Zunächst als Park im italienischen Renaissancestil geplant, wurde der Große Garten ab 1683 von Johann Friedrich Karcher, einem Schüler des Franzosen Andre Le Nôtre, im Sinne des Barock umgestaltet und 1722 endgültig fertig gestellt.2
 Sein Grundriss mit dem repräsentativen Palais im Kreuzungspunkt der Hauptachsen, den rechteckigen Pflanzenparterres und dem streng axial eingeordneten Wasserbecken folgt den rationalen Prinzipien der damaligen Repräsentationsarchitektur.

Natürlich hat es über die Jahrhunderte Veränderungen gegeben, doch bis heute wird die zentrale Dramaturgie von diesen Ursprüngen bestimmt. In ihrer Zeichnung ließ sich Birgit Schuh auch maltechnisch zunächst auf diese formalen Vorgaben ein und klebte das wohlgeordnete Wegenetz auf ihrer Kartenvorlage zeitweilig ab, bevor sie massiv mit Tusche eingriff. Doch letztlich gelingt es ihr auch hier, den Eindruck einer nur schwer zu bändigenden Naturkraft, die sich anarchistisch über die Gestaltungsmaßnahmen hinwegsetzt, zu erwecken.

Diese reflektierte Interpretation von Natur erinnert an die künstlerische Beschäftigung mit Vegetation und Landschaft, die seit den 1990er Jahren zunehmend populär wurde. Aufbauend auf drei Kategorien von Naturräumen, je nach Grad des menschlichen Einwirkens3
, hat Brigitte Franzen 2000 in ihrem gleichnamigen Buch eine Einordnung von entsprechenden aktuellen künstlerischen Tendenzen als „vierte Natur“ vorgenommen. Die Aktivitäten der „vierten Natur“, so Franzen, erstrecken sich „von einer tatsächlich gärtnerischen, prozessual plastischen Tätigkeit bis hin zu einer metaphorischen Behandlung …“4
und schließen „eng an die Definition des Gartens als ‚dritte Natur‘, als künstlich-natürliches Hybrid“5
an.

Als metaphorische Behandlung im Gestus der „vierten Natur“ dürfen wir denn auch Birgit Schuhs Analysen von gestalteter Landschaft begreifen – wiewohl sie sich zumeist auf Papier, als Fotografie oder Skulptur zutragen. Für die Untersuchung der menschlichen Naturaneignung sind sie ebenso relevant wie die von Franzen vorgestellten künstlerischen Erd- und Pflanzarbeiten: Birgit Schuhs Werke bieten eine profunde und zeitgemäße Reaktion auf die tradierten Formeln von erster (unberührte Wildnis), zweiter (Zivilisationseingriffe) und dritter Natur (Gärten) an. So sensibilisiert sie speziell für das Spannungsfeld zur „dritten Natur“ in zwei weiteren Arbeiten, nämlich „Kleine Karte (GG)“ und „Große Karte (GG)“ (beide 2012). Hier verwendete sie die stark abstrahierten Pläne des Großen Gartens, wieder in eher prototypischer Auffassung, als Ausgangsmaterial für Wandskulpturen. Sie übersetzt das in den Plänen erscheinende Wegenetz in ein plastisches Material. Im Gegensatz zur gezeichneten „Karte GG“ erscheint es jetzt als dunkle Positivform. Bei dem benutzten Werkstoff handelt es sich um ein eigens physikalisch behandeltes Holz.

Die Entscheidung für ein organisches Material, das jedoch entlang naturwissenschaftlicher Erkenntnis radikal überformt und den technologischen Vorstellungen der Gegenwart angepasst wurde, ist letztlich ein Gleichnis dafür, wie auch Natur und Landschaft selbst verändert und auf vielfältige Weise aktiv und passiv den wachsenden Wünschen der Menschheit unterworfen wurden – mit zweifellos ambivalenten Resultaten. Die moderne Materialforschung macht sich hier die flexiblen Eigenschaften des Holzes, auf Hitze und Feuchtigkeit zu reagieren, zunutze. Während Birgit Schuh das flache Holzgerüst mit heißer Tusche bearbeitete, verformte sich das Material. Dieser Prozess führte zu einer Verräumlichung, zu einer gleichsam dreidimensionalen Zeichnung. Mit den so absichtsvoll herbeigeführten Abweichungen lässt die Künstlerin symbolisch den Kontrast zwischen verschiedenen Gartenphilosophien des 18. und 19. Jahrhunderts anklingen: Denn, so Birgit Schuh, „enthält nicht eine solche barocke Gartenanlage eine gewisse absolutistische Anmaßung gegenüber späteren Ideen, die dem freien Landschaftsprinzip verpflichtet sind?“6
Dieser Anmaßung begegnet sie, wie schon in den beiden gezeichneten „Karten PG/GG“, mit Strategien der Zerstörung und des impliziten Zerfalls: „Vor der Natur muss menschgemachte Akkuratesse doch immer wieder kapitulieren.“7
Die Schönheit der Symmetrie wird gegen die Schönheit der Auflösung ausgespielt. Das heißt jedoch nicht, dass die Künstlerin ihre eigene Faszination für harmonisches Gleichmaß verleugnet – sie stellt vielmehr derlei (kultur)historische Größen programmatisch auf den Prüfstand und verlässt damit gleichnishaft den Schutzraum von gestalteter Stabilität.

Ähnliches geschieht in der Werkgruppe „Plan GG“ (2013), wenn diese auch auf den ersten Blick nach genau dem Gegenteil von Anarchie aussieht. Diese Serie von räumlichen Fadenzeichnungen nimmt wiederum die Figur des Gartengrundrisses, als schier unerschöpflicher Inspirationsquelle, wieder auf.8
Die filigranen Verspannungen scheinen dessen axialsymmetrischer Ästhetik genauestens zu folgen. In diversen Farbschattierungen und Variationen könnten sie gar den frühen Anleitungen zur Gartengestaltung entsprungen sein – jenen von Hohberg vielleicht oder denen des französischen Entwurfsgenies und Traktatautors André Mollet9
. Deren Zeichnungen dienten nicht allein der praktischen Realisierung von Lustgärten, sondern auch der Analyse von bereits bestehenden Formationen. Birgit Schuh nun, dem Ansatz einer interpretierenden, analytischen und erweiternden „vierten Natur“ verpflichtet, bewegt sich frei in dem durch das Papierformat abgesteckten Rahmen. Lustvoll spannt sie neue Formen auf und entledigt sich des Diktats einer landschaftsgestalterischen Anwendbarkeit. In das dichte Gewebe aus Fäden baut sie Störfaktoren ein, zelebriert Kontrollverlust und Irrationalität. Trotzdem fällt beim längeren Betrachten auf, wie hartnäckig der zugrundeliegende historische Gartenplan nachwirkt. Wie ein unauslöschbares Urbild täuscht er unsere Wahrnehmung zunächst über die künstlerisch eingebauten Fehler hinweg.
Auf der Metaebene lassen sich die Fadenzeichnungen als kluger Kommentar zu generellen, widersprüchlichen Erfahrungen von Planungs- und Konstruktionsprozessen lesen, letztlich auch zu den bisweilen aleatorischen Methoden der Naturwissenschaften. Diese Bezüge erstaunen kaum, wenn man ein biografisches Detail der Künstlerin kennt, nämlich die Tatsache ihres Mathematikstudiums. Dieser Aspekt ruft Hohbergs Charakteristikum des idealen Gärtners auf, der den Zirkel zu handhaben und Formen „gleichmässig nach der Zahl und der Figur abzumessen“ weiß. Mit diesem mathematischen Gepäck kann Birgit Schuh in ihrer Version des disegno Kollisionen von Ordnung und Störung gekonnt inszenieren und sich parallel dazu auf die heuristischen Qualitäten von Regeln und Maßen berufen. So „überformte“ sie ja bereits die eingangs beschriebenen großen Tuschezeichnungen von „Karte PG/ Karte GG“ mit einer nachträglichen Rasterfaltung. Diese gleichmäßigen Raster geben den Blättern nicht nur eine reliefartige Note, sondern gliedern die abgebildeten Landschaften auch in systematische, überschaubare Abschnitte.10

Genau das leisten auch topografische Karten und Pläne, sie rastern Landschaft in verdauliche Portionen auf und unterstützen deren Aneignung. Doch um zu diesen Resultaten zu kommen, musste die Welt zunächst vermessen werden; einst auf umständliche, oft abenteuerliche Weise. Wenn Birgit Schuh also systematisch die alten Vermessungssäulen des ehemaligen Königreichs Sachsen aufsucht und deren Beschriftung per Frottage kopiert11
, so tut sie nichts anderes, als sich in diesen Prozess der Welterfassung einzufühlen und das Gelände für sich neu zu erobern. Sie vollzieht sozusagen den Zwischenschritt, der zwischen dem realen, erfahrbaren Landschaftsraum und der abstrakten, gedruckten (oder auch digitalen) Karte liegt, noch einmal am eigenen Leibe. In ihrem künstlerischen „Landschaftslabor“ kann sie die Versuchsanordnungen, deren Reihenfolge und Beweisverfahren selbst bestimmen.
Sie hat sämtliche Freiheiten, so auch diese, eine Art schöpferischen Umkehrtest auszuführen wie in der Arbeit mit dem lapidaren Titel „Berg“ (2012). Die modellhafte, mit Tusche und Pigment bemalte Gipsplastik einer fiktiven Erhebung wird in der Intimität des Ateliers bzw. des Labors minutiös erforscht: Schrittweise formte die Künstlerin von dem Objekt die Höhenlinien ab, in einem rein plastischen Verfahren und übertrug diese auf einen planen Bildträger. Dort stellt sich die Draufsicht nun in unregelmäßiger Konzentrik als Fadenzeichnung der anderen Art dar. Experimentelle Kartografie resultiert so in einem Kunstwerk, einmal mehr, weil sie in der Installation von „Berg“ noch um ein drittes Element ergänzt wird: die auf die Wand projizierte Silhouette der Bergplastik. Der Schatten wird zum Archetyp von Landschaft, die immer ein letztes Geheimnis birgt – ganz gleich, mit welchen Verfahren sie vermessen und erfasst wird.

84 Seiten (20 x 25 cm), 38 Originalbriefmarken, Handeinband, Handsatz, Schuber
Auflage: 9 Exemplare.

Das Künstlerbuch umfasst 38 Briefmarken der BRD und DDR mit Landschaftsdarstellungen von Werken der Bildenden Kunst in chronologischer Reihung von 1970 bis zur Veröffentlichung 2014. Jede "Kunst-Briefmarke" ist auf einer Doppelseite platziert und beschriftet.

Text: Juliane Wolschina

BRIEFMARKE – Eine Marke weist eine entrichtete Gebühr nach und berechtigt auf Anspruch. Eine Briefmarke ist ein Postwertzeichen zur Zahlungsbestätigung des aufgedruckten Betrages. So lautet die offizielle Bedeutung einer Briefmarke. Doch dahinter ist sie im Geheimen ein Ticket, eine Fahrkarte und ein Freifahrtschein für unsere Anliegen. Sie erlaubt die Entsendung von Glückwünschen, großen und kleinen Bitten, nebensächlichen und bedeutungsvollen Gedanken, versteckten Absichten, Erklärungen und Entscheidungen und vielem mehr von dem, was Teil unseres persönlichen und vertraulichen Lebens ist. Doch auch Entwürfen, Listen und Formularen, als Teil der Organisation der durchgliederten und rhythmisierten Alltagswelt des Menschen, helfen sie auf den Weg. Wir schicken sie zu einem Menschen an einem fernen Ort, den wir räumlich nicht vor uns haben und den wir persönlich und leibhaftig in diesem Moment nur schwer erreichen. So passieren unsere zusammengefalteten und zugeklebten Begehren Wege, Länder und Grenzen.

Der Brief ist frei und kann über äußerliche und mitunter innere Zäune und Schranken hinausreichen. Trotzdem bleibt er zugleich Teil von den Strukturen und Netzwerken der Postwege. Die gestempelten Briefmarken geben diese Wege und Gefüge wieder und können zusammen mit dem Empfänger von der Reisegeschichte des Briefes erzählen. So verbinden einige der eingesetzten Marken aus dieser Zusammenstellung ein geteiltes Land und geben zwar einmal dessen politische und kartographische Trennung wieder, aber berichten auch zugleich von der darunter bewahrten tiefen menschlichen Einigung. Entgegen der offiziellen Briefmarkensortierung des Michel-Kataloges entschied sich die Künstlerin Birgit Schuh für eine chronologische Reihung, die keine Zuordnung nach Ländern, Stempel oder dem Entstehungsort berücksichtigt. Darüber hinaus wählte sie ausschließlich Briefmarken mit Landschaftsdarstellungen von Werken der Bildenden Kunst aus dem Zeitraum von 1970, ihrem Geburtsjahr, bis zur Gegenwart. Der Faden eines Lebensweges wird damit auf unbewusste und geheimnisvolle Weise mit den vielen kleinen Wegen und Geschichten der Briefe verbunden, welche die gestempelten Marken der Sammlung mitteilen. Dagegen stehen die ungestempelten Briefmarken für die unausgesprochenen Worte und Ideen, die verpassten Gratulationen, die unerfüllten Sehnsüchte, sowie die vergessenen und unerledigten Aufgaben. Sie gelangten nie an die unbeschriebenen Adressaten und erinnern an die nicht entsendeten Briefe, die nur Gedanke blieben. Doch auch schon der Blick auf eine Landkarte kann den Betrachter zum Reisenden machen…

LANDSCHAFT – … zum Reisenden in ferner oder vertrauter, in phantastischer oder realer Landschaft. Die Post wird durch Länder hindurch verschickt – unsere in Briefen versendeten Anliegen reisen durch sie und sind mit der Landschaft verknüpft – freie, ungezwungene Wege, Täler und Hügel, wie auch abseitige Pfade und pulsierende Straßen verbinden sich auf unwillkürliche Weise mit dem Wegenetz des Briefes. Das Thema Landschaft ist ein gewichtiger Schwerpunkt im OEuvre der Künstlerin, die sich mit den Wegen und Strukturen der Menschen und der Landschaft beschäftigt, die beide aufeinander wirken und sich beeinflussen. Doch nicht nur das Wegenetz gibt uns hierfür einen Einblick, sondern auch die Farben und der Grundton, den wir vom Anblick einer Landschaft mitnehmen. So erblicken wir auf den Ansichten der Briefmarken einmal die Landschaft als Schatten, im Himmel, der die Farben bewegt, in den Spiegelungen in Gewässern, im Flirren und Flimmern zwischen schwingenden Kleidern, stolzen Hüten und dunklen Bäumen, zwischen den Rillen des Gravurstichels oder in der Stadt aus Stein, die sich aus Ziegeln und Asphalt zu Wegen und Plätzen ergießt. Der Mensch ist Teil dieser Landschaft und er sieht seine Wünsche, Hoffnungen, Ängste und seinen Nutzen in ihr. So vielfältig wie unsere Stimmungen, Anliegen und deren Wandlungen sind, so vielfältig sind die Nuancen der Landschaft, ihrer Farben und Lichtgestaltung. Immer gibt es einen Ton, der dem Großen und Ganzen unterliegt, der den Blick auf eine Landschaft im Inneren zusammenhält oder sie zuweilen überflügelt und umweht. Daher befindet sich auf der gegenüberliegenden Seite von jeder Briefmarke eine besondere, der Landschaftsdarstellung auf der Marke entnommene Farbe.

Der Teppich der vor uns liegt
Ist ein Teil von jedem seinen Kleid
Wir tragen es in Taschen, Büchern
In Briefen und Karten
Sie durchkreuzen, erinnern, mahnen oder lieben
Ein Blick und wir halten inne
Sie tragen uns auf zu warten
Als Garten liegt die Botschaft vor uns
– von jedem Winkel eine andere Sicht –
Als Bild oder als Wort
Führten sie gerade
Von Ort zu Ort

Auszug aus dem Katalog
Das Gedächtnis des zukünftigen Materials
Franka Hörnschemeyer, Olaf Holzapfel, Joep van Liefland, Michael Sailstorfer, Birgit Schuh im Kontext mit Sammlungsobjekten der TU Bergakademie Freiberg, 2015

Text: Susanne Altmann

[…] Mit einem vergleichbaren Seiltanz zwischen ästhetischer Attraktivität und naturwissenschaftlicher Relevanz beschäftigt sich auch Birgit Schuh, wenn sie sich in ihrem Langzeitprojekt »Triangulirung« auf die Spuren früher Landvermesser begibt. In ihrer reliefartigen Arbeit »Topografie Triangulirung« (2014) entwirft sie eine Karte von Vermessungspunkten im einstigen Königreich Sachsen, die auf einem empirischen Nachvollzug im Gelände beruht. Allerdings verfremdet sie den sachlichen Eindruck des Schaubilds, indem sie nicht nur das entstandene Netzwerk farblich akzentuiert, sondern auch als Untergrund einen neuartigen Holzwerkstoff wählt, der sich bei der Behandlung mit wässriger Farbe wellig verformt. Mit der künstlerischen Aneignung des gezeichneten Landschaftsraums spielt sie gleichnishaft dessen reale Transformation nach, nicht zuletzt durch menschliche Eingriffe. Die Besetzung von Natur durch Zivilisation kann über Tage natürlich weit deutlicher wahrgenommen werden als im Schacht – denken wir nur an Josef Koudelkas kritischen Report »Black Triangle« (1990 – 1994) aus den böhmischen Braunkohlegebieten.

Doch letztlich geschieht dort unten, im Dunklen, nichts anderes: Nach Aufmaß und Erfassung des Territoriums folgt dessen zweckdienliche, nicht mehr umkehrbare Umformung. Ganz Künstlerin, erkennt Birgit Schuh in den Anstrengungen der praktischen Wissenschaften faszinierende Gestaltungsprozesse, die sich auch markant abbilden lassen. Ihre kartografisch und naturwissenschaftlich inspirierten Arbeiten verzichten dabei auf einen vordergründig zivilisationskritischen Gestus und überlassen solche Deutungen dem wachen Betrachter. So erinnert ihr bildnerisches und zugleich forschendes Vorgehen eher an die wissbegierige Begeisterung des jungen Poeten und Bergkundlers Novalis – etwa wenn sie mineralische Formen in dreidimensionale Pappobjekte übersetzt und gemeinsam mit hölzernen Lehrmodellen zur Kristallkunde präsentiert. […]

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